ESSEN ALS KOMPENSATION: BINGE-EATING-STÖRUNG UND ADIPOSITAS IM FOKUS

An der Privatklinik Aadorf finden nicht nur Frauen und Männer mit den allgemein bekannten Essstörungen Anorexie und Bulimie ein spezifisches Therapieangebot, sondern auch Menschen mit einer Binge-Eating-Störung und einer damit einhergehenden Adipositas. Das hat gute Gründe.

Dr. med. Almut Schaefer ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und seit Januar 2023 Leiterin der Station Viva der Privatklinik Aadorf.

Die Binge-Eating-Störung (BES) ist die häufigste Essstörung. Sie zeichnet sich durch wiederkehrende Essanfälle aus, deren Rahmen die Betroffenen subjektiv die Kontrolle über ihr Essverhalten verlieren. Rund 50 Prozent der betroffenen Menschen leiden in der Folge an einer Adipositas mit einhergehenden somatischen Folgeerkrankungen und psychischen Komorbiditäten. Die Binge-Eating-Störung wurde 2013 erstmals als offizielle Diagnose in das DSM-5 aufgenommen und findet sich nun auch in der neuen ICD-11-Klassifikation.

Menschen mit einer Adipositas haben zudem ein erhöhtes Risiko für weitere psychische Erkrankungen. Eine Metaanalyse von Mannan et al. (2016) hat gezeigt, dass signifikante und klinisch relevante Assoziationen zwischen Adipositas und Depressionen, bipolar affektiven Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD), Ängsten, Suchterkrankungen, Schizophrenien sowie dem Aufmerksamkeits- Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bestehen.

Dr. med. Almut Schaefer kennt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Binge-Eating-Störung und Adipositas bestens. Die neue Leiterin der Station Viva der Privatklinik Aadorf hat sich während ihrer beruflichen Laufbahn vertieft mit beiden Erkrankungen auseinandergesetzt.

Frau Schaefer, im Gegensatz zu Essstörungen wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Binge-Eating-Störung steht bei Adipositas in erster Linie die körperliche Symptomatik im Vordergrund, also das starke Übergewicht. Wie ausgeprägt ist der psychische Aspekt?
Bei Adipositas lassen sich grundsätzlich zwei Gruppen unterscheiden. Zur ersten Gruppe zählen Menschen mit starkem Übergewicht, die keine wesentlichen psychischen Leidensmerkmale aufweisen. Sie waren oftmals schon als Kind übergewichtig, haben sich damit arrangiert und räumen einer Gewichtsreduktion keine besondere Priorität ein. Bei der zweiten – und deutlich grösseren – Gruppe besteht hingegen ein ausgeprägter Leidensdruck.

Gemäss aktuellen Studien leiden rund 25 Prozent der adipösen Personen an einer Depression, wobei das Risiko, an einer Depression zu erkranken, mit steigendem BMI grösser wird. Gleichzeitig zählt die Depression zu den anerkannten Risikofaktoren für die Entstehung einer Adipositas. Die beiden Erkrankungen begünstigen sich also gegenseitig. Zudem weisen sie viele Gemeinsamkeiten auf. Antriebsschwäche, hyperkalorisches Essen oder sozialer Rückzug sind Aspekte, die sich sowohl bei Adipositas als auch bei Depressionen zeigen.

Für Menschen mit Adipositas und psychischen Begleiterkrankungen bietet die Privatklinik Aadorf eine spezialisierte stationäre Behandlung. Welche psychischen Störungen stehen dabei im Fokus?
Bei Menschen mit Adipositas liegt sehr häufig eine Binge-Eating-Störung vor. In der allgemeinen Bevölkerung beträgt die Lebenszeitprävalenz rund zwei Prozent. In unseren Behandlungsprogrammen für Menschen mit Adipositas leidet hingegen rund ein Drittel an einer Binge-Eating-Störung – was oftmals daran liegt, dass sich durch die häufigen und heftigen Essanfälle eine starke Gewichtszunahme und schliesslich Adipositas entwickelt.

Die andere Patientengruppe umfasst Menschen, die primär an einer Depression leiden. Die Erkrankung hat bei ihnen unter anderem ein gestörtes Essverhalten zur Folge. Auch die Nebenwirkungen von Psychopharmaka führen bisweilen zu einer Gewichtszunahme.

Sehr häufig treten Mischformen auf. Menschen mit einer Binge-Eating-Störung leiden in etwa 50 Prozent der Fälle auch an einer Depression, bei rund einem Drittel liegt eine Angststörung vor.

Wie sieht es aus therapeutischer Sicht aus? Kommen bei der Behandlung von Menschen, die an Adipositas und einer Binge-Eating-Störung leiden, die gleichen Therapieansätze zur Anwendung wie bei adipösen Menschen ohne Binge-Eating-Störung?
Bei der Behandlung von Menschen mit Adipositas, die psychisch gesund sind, geht es in erster Linie darum, das Gewicht auf gesunde Weise zu reduzieren. Hier spielen die Ernährungsberatung und eine gesteigerte Aktivität eine zentrale Rolle. Natürlich muss auch geklärt sein, ob eine körperliche Erkrankung besteht, zum Beispiel eine Schilddrüsenerkrankung, die für die Entstehung der Adipositas verantwortlich sein kann. Allenfalls müssen eine Medikation und bei schwer betroffenen Menschen eine bariatrische Operation erwogen werden.

Liegt eine entscheidende Ursache für die Adipositas dagegen in einer oder mehreren psychischen Erkrankungen, sollte auch dort der Fokus der Behandlung liegen. In der Privatklinik Aadorf wird deshalb auf der Station Viva ein spezialisiertes Therapiekonzept für Menschen mit einer Binge-Eating- Störung angeboten. Man geht davon aus, dass belastende Lebensereignisse, eine erhöhte Impulsivität, Emotionsregulationsdefizite und ein geringer Selbstwert Risikofaktoren für das Vorliegen einer Binge- Eating-Störung sind. Zudem zeigt sich häufig ein ungesundes Essverhalten mit einem Wechsel von Restriktion und Kontrollverlust sowie einer nicht ausgewogenen Ernährung. In der Behandlung wird auf diese Punkte eingegangen und den Patientinnen und Patienten ein gesundes Essverhalten mit ausreichender Bewegung und Sport vermittelt. Bei einigen Patientinnen und Patienten ist zudem eine psychopharmakologische Behandlung sinnvoll.

Es konnte nachgewiesen werden, dass sich eine psychotherapeutische Behandlung für diese Patientinnen und Patienten lohnt. Rund 50 Prozent der betroffenen Menschen können eine vollkommene Abstinenz von Essanfällen erreichen und insgesamt etwa zwei Drittel die Essanfälle in der Anzahl und Nahrungsmenge pro Anfall deutlich reduzieren.

Wie sieht es mit der Körperbildwahrnehmung von adipösen Menschen mit Binge-Eating-Störung aus? Unterscheidet sich diese von der Wahrnehmung von adipösen Menschen ohne Essstörung?
Menschen mit einer Binge-Eating-Störung haben häufig ein verzerrtes inneres Bild ihres Körpers. Bei adipösen Menschen ohne Essstörung besteht im Allgemeinen ein realistischeres Körperbild. Aber das sind Verallgemeinerungen. Manche Betroffene sehen sich auch dünner, als sie eigentlich sind. Es muss immer darum gehen, den Einzelfall anzuschauen.

Sie sind neue Leiterin der Station Viva, in welcher vor allem Männer und Frauen mit Adipositas und Binge-Eating-Störung behandelt werden. Sind in diesem Zusammenhang Aspekte wie die betont private Atmosphäre oder die diskrete Einbettung in ein Wohnquartier besonders wichtig?
Gerade die Binge-Eating-Störung ist stark mit Scham und Stigmatisierung behaftet, was auch der Grund ist, warum die Erkrankung oftmals gar nicht oder erst sehr spät diagnostiziert wird, was wiederum zu einem geringeren Hilfesuchverhalten der betroffenen Menschen führt. Zudem bestehen auch in der Gesellschaft grosse Vorbehalte gegenüber Übergewichtigen. Sie werden häufig in ihren Beschwerden nicht ernst genommen und finden kaum Therapeuten. Selbst bei vielen Therapeutinnen und Therapeuten ist das Vorurteil vorherrschend, dass Adipositas mit Willensschwäche und Faulheit zusammenhängt.

In der Klinik Aadorf machen es die private Atmosphäre und die überschaubare Grösse der Station den Patientinnen und Patienten leicht, sich wohlzufühlen und sich auf die Therapien einlassen zu können. Das schafft einen tragfähigen Rahmen und eine gute Ausgangslage, um die Erkrankung erfolgreich behandeln zu können.

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