BINGE-EATING-STÖRUNG – EINE HÄUFIGE URSACHE VON ADIPOSITAS

Die Binge-Eating-Störung ist die häufigste Essstörung. Sie hat vielfältige Ursachen und führt in vielen Fällen zu Adipositas mit entsprechenden psychischen und körperlichen Folgeschäden. Für die Symptombewältigung ist eine multimodale Diagnostik und Behandlung unter Einbezug somatischer sowie psychischer Faktoren zielführend.

Dr. med. Almut Schaefer ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und seit Januar 2023 Leiterin der Station Viva der Privatklinik Aadorf.

Obwohl viele Menschen gelegentlich zu viel essen, wählen sie entsprechend ihres Hungergefühls meistens adäquate Portionsgrössen. Manche Menschen leiden jedoch häufig und damit krankheitswertig an Essanfällen mit unkontrollierter Nahrungsaufnahme – der sogenannten Binge- Eating-Störung (BES). Anders als bei der Bulimie fehlen bei der BES in Folge der Essanfälle jedoch kompensatorische Verhaltensweisen zur Gewichtsreduktion.

Das Störungsbild wurde bereits 1959 beschrieben. Im Jahr 2013 wurde die Binge- Eating-Störung als offizielle Diagnose in das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen DSM-5 aufgenommen und ist auch in der neuen Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten ICD-11 als eigenständige Diagnose im Kapitel der Fütter- und Essstörungen genannt.

Prävalenz

Die Binge-Eating-Störung ist die häufigste Essstörung; die Lebenszeitprävalenz in der Schweiz liegt bei Frauen bei 2,4 %, bei Männern bei 0,7 %. Während Menschen mit einer Binge-Eating-Störung zu rund 70 % unter einer Adipositas leiden, besteht umgekehrt bei adipösen Menschen eine Lebenszeitprävalenz von 20 bis 30 % für das Auftreten einer BES. Dies bedeutet, dass die BES eine häufige Ursache von Adipositas ist. Typischerweise manifestiert sich die Binge-Eating-Störung zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr. Eine zweite Häufung der Erstmanifestation konnte im Alter zwischen 45 und 54 Jahren nachgewiesen werden. Unbehandelt sind chronische Verläufe häufig.

Ätiologie

BES ist eine komplexe Störung, an deren Entstehung, Auslösung und Aufrechterhaltung mehrere psychosomatische und biologische Faktoren beteiligt sind. In Zwillingsstudien wurde eine Erblichkeit zwischen 64 und 80 % festgestellt. Als psychische Risikofaktoren gelten unter anderem erhöhte Impulsivität, niedriges Selbstwertgefühl sowie Emotionsregulationsdefizite. Weitere prädisponierende Faktoren können ein negatives Körperbild und Diätverhalten in der Kindheit und Jugend sein. Als auslösende psychosoziale Faktoren sind kritische Lebensereignisse, niedrige soziale Unterstützung durch Gleichaltrige sowie kritische Kommentare über Figur und Gewicht belegt. Restriktive Phasen der Nahrungsaufnahme im Wechsel mit Essanfällen begünstigen die Aufrechterhaltung der BES.

Stigmatisierung

In Folge der häufig auftretenden Adipositas bei BES kommt es oft zu Stigmatisierungserfahrungen. Übergewichtigen Menschen werden mangelnde Disziplin, Willensschwäche, psychische Auffälligkeiten und Unattraktivität zugeschrieben. Im medizinischen Bereich ist die Diskriminierung adipöser Menschen besonders ausgeprägt. Im Vergleich zu Normalgewichtigen werden Beschwerden adipöser Patient:innen weniger ernst genommen. Krankheiten werden häufiger übersehen, teure Untersuchungen seltener durchgeführt. Die Konsultationsdauer ist kürzer. Zudem wird adipösen Menschen häufiger mangelnde Hygiene und ein Nicht-Befolgen von Behandlungsempfehlungen unterstellt. Häufig schreiben sich die Betroffenen die erwähnten negativen Bewertungen selbst zu, wodurch Selbstwert und Selbstwirksamkeit geschwächt werden und eine Selbststigmatisierung entsteht.

Komorbiditäten

Bei fast 70 % der Patient:innen mit einer BES besteht ein BMI von ≥ 30 kg/m². Entsprechend erhöht ist bei diesen Betroffenen das Risiko für Erkrankungen, die mit Adipositas assoziiert sind, zum Beispiel kardiovaskuläre Erkrankungen, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus, chronische Schmerzerkrankungen oder bestimmte Karzinome. Psychische Komorbiditäten bestehen bei rund 70 % der an BES erkrankten Menschen. Dabei sind komorbide affektive Störungen sowie Angststörungen und Impulskontrollstörungen am häufigsten. Suchterkrankungen, posttraumatische Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen treten ebenfalls gehäuft auf.

Therapie

Zur Behandlung von Menschen mit BES und Adipositas ist eine längerfristige koordinierte multiprofessionelle und multimodale Therapie zielführend und bietet gute Erfolgsperspektiven. Die Therapieziele sind eine Verbesserung der Essstörungssymptomatik mit Implementierung eines gesunden Essverhaltens, eine Verbesserung der assoziierten psychischen Probleme, die Behandlung komorbider psychischer Erkrankungen sowie die Rückfallprävention. Die Behandlungsstrategie der ersten Wahl stellt leitliniengerecht die Psychotherapie im Rahmen einer längerfristig angelegten multimodalen Behandlung dar. In mehreren Studien konnte nachgewiesen werden, dass sich die Essstörungssymptome durch Psychotherapie deutlich verbessern. Rund 50 % erreichen eine Abstinenz der Essanfälle, 60 % geben an, von der Behandlung zu profitieren. Die Effekte bleiben oft langfristig erhalten. Das am besten untersuchte Verfahren ist die kognitive Verhaltenstherapie, in der auslösende, begünstigende und aufrechterhaltende Kognitionen und Verhaltensweisen bearbeitet werden. Aber auch andere Therapieansätze wie die psychodynamische, die interpersonelle sowie die dialektisch-behaviorale Therapie zeigen Wirksamkeit.

Eine stationäre psychosomatische Behandlung ist angezeigt bei einer besonderen Schwere der Symptomatik, bei ausgeprägtem psychischem Leiden mit deutlicher Einschränkung der Lebensqualität, starken Gewichtsschwankungen oder komorbiden Erkrankungen. Im stationären Setting lassen sich verschiedene spezialisierte Therapieverfahren mithilfe eines interdisziplinären Teams durchführen. Ausserdem schätzen viele Patient:innen den intensiven Austausch und die Gemeinschaft mit anderen Betroffenen.

Psychologische Theorien

Im Fachbeitrag zum Thema im BrainMag setzen sich die Autor:innen intensiv mit den Hintergründen und Zusammenhängen von BES und Adipositas auseinander. Ein besonderes Augenmerk liegt zudem auf den psychologischen Theorien zur Entwicklung einer Binge-Eating-Störung. Den gesamten Fachbeitrag finden Sie unter folgendem Download.


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