IMPULS FÜR EINE DAUERHAFTE VERÄNDERUNG
Beim Auftreten der beiden Diagnosen Binge-Eating-Störung und Adipositas ist bei ausgeprägter Symptomatik und hohem Leidensdruck eine stationäre Therapie angezeigt. Das Beispiel von Frau D. zeigt, dass sich dadurch die Basis für eine langfristige Verbesserung der körperlichen und psychischen Befindlichkeit sowie des Selbstwerterlebens legen lässt.
Frau D. ist 40 Jahre alt und wurde aufgrund einer langjährigen Binge-Eating- Störung zur stationären Behandlung zugewiesen. Zum Eintrittszeitpunkt hatte sie mit 137 Kilogramm und einem Body-Mass- Index von 53 kg/m² ihr Höchstgewicht erreicht. Durch die Adipositas permagna war Frau D. in ihrer Beweglichkeit und körperlichen Belastbarkeit stark eingeschränkt. Zusätzlich wurde vor kurzem ein Diabetes mellitus Typ 2 diagnostiziert.
Essproblematik seit der Kindheit
Frau D. berichtete, täglich nach der Arbeit unkontrolliert zu essen, hauptsächlich Süssigkeiten, die sie wahllos «in sich hineinstopfe». Bereits in der Kindheit habe sie «Probleme mit dem Gewicht» gehabt. Sie sei pummelig gewesen, habe in der Jugend kurzzeitig selbstinduziert erbrochen und später zahlreiche Diätversuche unternommen. Aus ihrer Lebensgeschichte geht hervor, dass sie als zweitältestes Kind in eine grosse Familie geboren wurde. Als sie im Kindergartenalter war, verstarb ihr älterer Bruder infolge eines tragischen Unfalls. Der Verlust und dessen Auswirkungen, worüber in der Familie kaum gesprochen wurde, haben Frau D. vermutlich mit heftigen Gefühlen von Schuld, Traurigkeit und Einsamkeit überflutet. Bis weit ins Erwachsenenleben hinein habe sie sich gewünscht, sie selbst wäre anstelle ihres Bruders verstorben. In den unmittelbaren Folgejahren kamen weitere Trennungen und Verluste hinzu: Die Familie verliess ihr Ursprungsland und immigrierte in die Schweiz, wo Frau D. ihre Schulzeit verbrachte. Über mehrere Jahre habe sie kaum sozialen Anschluss gefunden, erst in der Oberstufe habe sich ein anderes Mädchen mit ihr angefreundet. Da aber ihre Mutter in dieser Zeit schwer erkrankte, übernahm Frau D. viele Aufgaben im Haushalt und fühlte sich als nun ältestes Kind verantwortlich für die jüngeren Geschwister.
Frau D. hat bis heute anhaltend hohe Ansprüche an sich und arbeitet in ihrem Beruf bis zur Selbstaufgabe. Sie meint, nur durch übermässige Leistung und Verzicht auf eigene Wünsche eine Existenzberechtigung zu haben. Ebenso kümmert sie sich aufopfernd um ihre Verwandtschaft und möchte für diese jederzeit «da sein». Dass das hierdurch von ihr mehr oder weniger unbewusst ersehnte Zurückerhalten von Fürsorge und Aufgehobenheit weitgehend ausbleibt, erfüllt sie wiederkehrend mit Niedergeschlagenheit.
Wenn zudem die für ihr fragiles Selbstwertgefühl notwendige Bestätigung durch andere fehlt, oszilliert sie zwischen Selbstabwertung und verdeckter Enttäuschungswut auf die anderen. Essen lenke sie in solchen Situationen ab, es sei «wie eine Medizin», die sie runterschlucken könne und sie beruhige. Die regelmässigen Essanfälle können als Bewältigungs- und Abwehrversuche ihrer depressiven Grundstimmung verstanden werden.
Deutliche Therapieeffekte
Im Verlauf der 10-wöchigen stationären Therapie konnte Frau D. durch das Etablieren einer regelmässigen, ausgewogenen Ernährung und den Aufbau von körperlicher Bewegung eine Gewichtsreduktion von 15 Kilogramm erreichen – ein grosser Erfolg, sowohl für die körperliche und psychische Befindlichkeit als auch für das Selbstwerterleben. Aufgrund des grossen Ausgangsgewichts besteht trotzdem weiterhin eine hochgradige Adipositas. Die Therapieeffekte sind als erster Impuls für eine dauerhafte Veränderung des Essverhaltens zu verstehen. Da die Essattacken als dysfunktionale Kompensation von defizitärem Selbst-, Körper- und Beziehungserleben aufgefasst werden, muss die Psychotherapie fortgesetzt werden, genauso wie die erforderliche medizinische Begleitung bei den noch bestehenden Folgeerscheinungen der Adipositas.
Um den Behandlungserfolg nachhaltig zu sichern, ist weiterhin eine enge Kooperation der medizinischen und psychotherapeutischen ambulanten und gegebenenfalls stationären Behandler:innen gefragt – ganz im Sinne des psychosomatischen Grundgedankens einer «Leib-Seele-Einheit».
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